S. Bitter u.a.: Tibetische Kinder für Schweizer Familien

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Titel
Tibetische Kinder für Schweizer Familien. Die Aktion Aeschimann


Autor(en)
Bitter, Sabine; Nad-Abonji, Nathalie
Erschienen
Zürich 2018: Rotpunktverlag
Anzahl Seiten
240 S.
von
Helena Kanyar Becker

Am 10. März 1959 revoltierte die tibetische Bevölkerung gegen die chinesischen Okkupanten, die das Abkommen über die regionale Autonomie und die religiöse Freiheit von 1950 nicht respektierten. Als das bedrohte buddhistische Oberhaupt, der 24-jährige Dalai Lama, Tenzin Gyatso, am 17. März nach Indien flüchten musste, endete der Volksaufstand mit einem Massaker mit etwa 10‘000 Toten. Tausende Familien folgten dem Dalai Lama ins Exil und überquerten den Himalaya nach Indien. Ihr tragisches Schicksal löste ein internationales Echo aus und die UNO-Generalversammlung erklärte das Jahr 1960 zum Weltflüchtlingsjahr.

Tibetische Frauen, Männer und Kinder ab zwölf Jahren mussten in den indischen Bergen Schwerstarbeit beim Strassenbau leisten. Für die unterernährten und kranken Kinder eröffnete der Dalai Lama im Mai 1960 ein Heim in der Nähe seiner Residenz in Dharamsala. Die Nursery for Tibetan Refugee Children wurde von der älteren Schwester des Dalai Lama, Tsering Dolma, geleitet und vom Schweizer Roten Kreuz (SRK) und der Schweizer Tibethilfe (STH) unterstützt. Die Ärztinnen und Ärzte, die dort im Auftrag des SRK arbeiteten, berichteten über die prekäre Situation in diesem Kinderheim. Die dortigen Verhältnisse besserten sich, als Jetsun Pema, die in Europa ausgebildete jüngere Schwester des Dalai Lama, die Heimleitung übernahm.

Der Industrielle Charles Aeschimann, Delegierter des Verwaltungsrats der Aare-Tessin AG für Elektrizität in Olten, setzte sich für die Aufnahme von 200 tibetischen Kindern in die Schweiz ein. Er schloss mit dem 14. Dalai Lama ein Abkommen, nach dem die gut ausgebildeten Kinder als künftige Elite nach Hause zurückkehren sollten. Aeschimann verhandelte mit den Bundesbehörden, die für die Kinder einen Asylstatus bewilligten und 1000 tibetische Flüchtlinge – als Opfer des Kommunismus, jedoch als willkommene Arbeitskräfte – in die Schweiz holen wollten. Die ersten Flüchtlingsfamilien reisten im Oktober 1961 ein und konnten im Februar 1962 in eine Heimstätte im Kanton Appenzell Ausserrhoden einziehen. Das kollektive Wohnen wurde vom Verein der Tibetischen Heimstätten (VTH) organisiert.

Charles Aeschimann initiierte auch den Bau der beiden Tibeter-Häuser im Pestalozzi Kinderdorf in Trogen (1961 und 1964), wo ca. 40 Kinder in ihrer Muttersprache und den Traditionen erzogen wurden. Für die übrigen 160 Kinder suchte Aeschimann gut situierte Pflegefamilien aus. Die Medien popularisierten seine Kinderaktion. Die Ankunft von Aeschimanns Pflegesohn Tseten im August 1960 wurde zum Medienereignis, genauso wie die Landung der ersten Gruppe der Tibeterli ein Jahr später in Kloten. Die Medien berichteten fälschlicherweise von tibetischen Waisen, obwohl die meisten Kinder wenigstens einen Elternteil hatten und nur 19 elternlos waren. Die letzte Kindergruppe kam im März 1964 in die Schweiz.

Die Hilfsorganisationen, zu denen das 1968 gegründete Tibet-Institut, eine klösterliche Mönchsgemeinschaft in Rikon gehörte, kritisierten Aeschimanns Kinderaktion. Ihre Argumente, dass die Kinder ihrer eigenen Sprache und Kultur entfremdet würden, bewahrheiteten sich, da die jungen Erwachsenen mit ihren Verwandten kaum kommunizieren konnten.

Die tibetischen Kinder wurden auch in Deutschland, Frankreich, Dänemark und Grossbritannien aufgenommen. Die von den Erlebnissen während des Aufstands, der Flucht und durch die Trennung von ihren Eltern und Geschwistern traumatisierten Kinder waren oft vom Wechsel in ein fremdes Land überfordert, genauso wie ihre Pflegeeltern. Mindestens 27 Kinder wechselten ihre Pflegefamilien, während der Pubertät wurden einige Kinder drogenabhängig, zwölf wurden in Erziehungsheime, psychiatrische Kliniken oder Gefängnisse eingewiesen und neun nahmen sich das Leben. Die Pflegeeltern erlebten oft juristische Schwierigkeiten, wenn sie ihre tibetischen Kinder adoptieren oder einbürgern lassen wollten. Probleme gab es manchmal auch mit dem Religionswechsel. Der Dalai Lama lehnte anfänglich die «Europäisierung» der Kinder ab, später wechselte er zur pragmatischen Meinung: «Lieber ein guter tibetischer Andersgläubiger als ein schlechter Buddhist.» (S. 83). Die leiblichen Eltern, die meist nicht gefragt wurden, ob sie mit der Übersiedlung ihrer Kinder in die Schweiz einverstanden wären, erfuhren davon kaum etwas. Die Kontakte mit ihren Kindern gestalteten sich schwierig, weil die Eltern in der streng hierarchischen Gesellschaft mit feudalen Strukturen lebten und die erwachsenen Tibeterli nur zu Besuch zurückkehrten.

Die Tibeter Jugendlichen gründeten 1970 den Verein Tibeter Jugend in Europa (VTJE), dem die meisten der Aeschimann-Kinder beitraten. Sie wollten untereinander Kontakte pflegen, denn diese Gemeinschaft stellte für sie einerseits ein Integrationsmittel dar, andererseits sollte sie ihre ethnische Identität und das Nationalgefühl stärken. Sie gaben auch eine eigene Zeitschrift heraus. Wichtig für sie war die Zugehörigkeit zum Buddhismus und die Verehrung des Dalai Lama, der sie und ihre Pflegeeltern in der Schweiz besuchte. Die meisten von ihnen betrachten ihr Leben in der Schweiz als positiv, vermissen jedoch eine Entschuldigung seitens ihrer tibetischen Betreuerinnen in Dharamsala für das Leid, das sie erleben mussten.

Die Autorinnen, investigative Presse- und Radiojournalistinnen, die sich seit Jahren mit der Jugend- und Flüchtlingsthematik auseinandersetzen, verfassten die erste, sorgfältig recherchierte, kritische Publikation zu diesem verdrängten Thema. Sie verarbeiteten Quellen und Dokumentationen aus den öffentlichen und privaten Archiven, führten zahlreiche Gespräche mit den Beteiligten und forschten sogar im Archiv des Kinderheims in Dharamsala in Indien.

Zitierweise:
Helena Kanyar Becker: Sabine Bitter, Nathalie Nad-Abonji: Tibetische Kinder für Schweizer Familien. Die Aktion Aeschimann, unter Mitarbeit von Sabine Braunschweig, Zürich: Rotpunktverlag, 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 485-487.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 485-487.

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